Die Zahl der Anbieter für online bestellte und schnell gelieferte Lebensmittel steigt rasant. Doch nur die wenigsten sind profitabel, meinen Experten wie Matthias Schu. Sie sagen eine «Konsolidierungswelle» voraus und veränderte Geschäftsmodelle. Guter Rat aus Luzern: Automatisierung sei ein wichtiger Hebel.

«Schneller als Du»: Mit diesem Slogan wirbt zum Beispiel 2020 das Start-up Gorillas in Berlin für seinen Service – nämlich Lebensmittel und andere Supermarktwaren, die über eine App bestellt werden, per Fahrradkurier zu liefern –, zu den gleichen Preisen wie im Laden plus Zustellkosten von 1,80 Euro und allfälligem Mindermengenzuschlag. Dafür, so das Versprechen, sei die Ware binnen zehn Minuten nach Bestelleingang beim Kunden.

Quick Commerce nennt sich das Geschäftsmodell im Fachjargon. Es basiert primär auf dem 2013 in Philadelphia gegründeten US-Vorbild goPuff – auch wenn die Grundidee deutlich älter ist und bereits 1998 Premiere feierte. Die Strategie wurde weltweit von zahlreichen Start-ups übernommen, darunter Flink, Weezy, Getir oder eben Gorillas.
Treiber der Nachfrage im Quick Commerce war in jüngerer Zeit die Corona-Pandemie. Sie wirkte wie ein Wachstumsbeschleuniger für alle Akteure im Lebensmittel-Onlinehandel (E-Food), der im deutschsprachigen Raum im Vergleich zu Grossbritannien bisher eher ein Schattendasein fristete. Experten teilen das Segment in mehrere Untersegmente, die sich allerdings mehr und mehr vermischen: reine Online-Player (z.B. Rohlik oder Picnic), Omni-Channel-Händler (z.B. Rewe, Billa oder Coop), Restaurant Delivery (z. B. Delivery Hero), Kochboxlieferanten (z.B. Hello Fresh) und weitere Spezialisten oder Nischenplayer (z.B. Frischepost, Flaschenpost oder auch KoRo). 

 

M. Schu

Da das E-Food-Segment in den vergangenen Jahren hohe zweistellige Wachstumsraten erzielte, wird es von Risikokapitalgebern bereits als neuer «Megatrend» gehandelt. Weltweit wollen immer mehr Unternehmen und Start-Ups einen Teil des Kuchens abbekommen. Doch Fakt ist auch: Gerade im Quick Commerce werden bestehende Geschäftsmodelle in der Regel nur kopiert. «Die Copycats werden es schwer haben, weil selbst in Städten mit mehr als 200.000 Einwohnern nur für zwei Anbieter Platz ist», sagt Branchenkenner Matthias Schu. Der E-Food-Experte doziert an der Hochschule Luzern und verfasste «Das E-Food Buch» und den «Quick Commerce Report».

Für seinen Report erarbeitete er eine Marktpotenzialschätzung für den deutschen Quick Commerce-Markt im Jahr 2030. Ergebnis: Insgesamt ergibt sich in 40 Städten mit mehr als 200.000 Einwohnern ein Potenzial von 33,6 Milliarden Euro – pessimistisch geschätzt. Zahlreiche Entrepreneure sehen grosses Potential bei niedrigen Einstiegshürden und gründeten Start-Ups, deren Services sich durch mehrere Merkmale auszeichnen:

  • In der Regel zehn bis 15 Minuten Lieferzeit, maximal eine Stunde
  • Zustellung mit Fahrrädern oder motorisierten Zweirädern
  • Lieferradius von weniger als drei Kilometer um ein Lager
  • Hyperlokales Fulfillment aus kleinen Lagern oder Geschäften
  • Breites, aber wenig tiefes Sortiment mit Fokus auf Convenience
  • Meist zwischen 700 und 3.500 Artikel
  • Viele Markenartikel mit guter Marge, verstärkt auch Eigenmarken

Für seinen Report identifizierte Schu die Stellschrauben für die Profitabilität. Viele Player pumpen das Geld ihrer Investoren in Marketingkampagnen und die Expansion im urbanen Raum, bewegen sich aber aktuell in den roten Zahlen. Prinzipiell lassen sich Schu zufolge zwei Modelle erkennen: Zum einen der sogenannte Stand-Alone-Ansatz, bei dem die Firmen die gesamte Wertschöpfungskette kontrollieren. Sie betreiben Lager oder Darkstores, lassen eigene Mitarbeiter kommissionieren und die Waren mit ihren Fahrern (sogenannten Riders) ausliefern. Beispiele hierfür sind etwa Flink, Mjam oder Getir.

Fotos: TGW

 

Zum anderen finde man den Plattform-Ansatz, in dem der Anbieter als «Orchestrator» agiert. Innerhalb der Wertschöpfungskette führt er die vermeintlichen Kernaufgaben selbst aus, die restlichen Prozesse werden mit Partnern koordiniert. Beispiele sind Instacart und bringoo. Insbesondere Warenlagerung und Sortimentspolitik überlässt man Lebensmittelhändlern, in deren Geschäften die Bestellungen kommissioniert werden – im Fachjargon nennt sich das der «asset-light»-Ansatz. Er hat laut Schu seinen besonderen Charme darin, dass sich theoretisch eine Mischung aus verschiedenen Angeboten und Händlern unter einem Dach bündeln lässt und das Warenrisiko beim Handelspartner bleibt.

Die Vorteile: mehr Auswahl für den Kunden, eine bessere Fixkostenverteilung für den Plattformanbieter sowie die Erschliessung weiterer Erlösströme, beispielsweise in Form von Umsatzbeteiligung. Wenn Partner wie etwa Bäckereien oder Blumenläden eingebunden werden, lassen sich auch Kunden adressieren, die das lokal typische Sortiment suchen, aber die Vorzüge einer schnellen Lieferung schätzen. Michael Schedlbauer, Experte im Bereich Lebensmitteleinzelhandel bei TGW, ist überzeugt, dass das Plattformmodell prinzipiell vorteilhafter ist als die Stand-Alone-Lösung, «weil es in der Regel die Chance auf grössere Warenkörbe aufgrund des breiten Artikelspektrums und weitere Einnahmequellen bietet. Allerdings braucht es Partner, um erfolgreich zu sein.»

Egal, bei welchem Modell: Alle Akteure im Quick Commerce wollen profitabel agieren, eher früher als später. Doch das sei leichter gesagt als getan. Denn die Branche ist geprägt durch geringe Margen und hohe Personalkosten sowie durch Krisenstimmung durch ausbleibendes Investorengeld. Eine Herausforderung sei der hohe Kostenanteil für das Picking und die Auslieferung. Laut einer Studie von Capgemini aus dem Jahr 2018 betragen die Aufwände für die «Letzte Meile» 46 Prozent der Gesamtkosten.

M. Schedlbauer

Damit Unternehmen trotzdem eine Chance haben, in die Gewinnzone zu kommen, gibt es den beiden Experten zufolge fünf Stellschrauben:

 

  • Die Höhe des Warenkorbs: Eine Option sei die Einführung eines Mindestbestellwerts.
  • Die Höhe der Liefergebühr: Generell gelte im Quick Commerce, dass die Liefergebühren nicht die Zustellgebühren decken.
  • Werbekostenzuschüsse: Was im stationären Handel bereits Usus sei, werde im Quick Commerce (noch) nicht vollständig umgesetzt.
  • Effizienzsteigerung auf der letzten Meile: Klassische Hebel wie eine möglichst hohe Anzahl von Stopps pro Stunde sei bei Lieferzeiten von weniger als 15 Minuten kaum zu realisieren: Schu glaubt, dass sich die Lieferzeiten bald verlängern – und dann Fahrtenkonsolidierungen und der Einsatz von Routenplanungssoftware die Option sind.
  • Effizienzsteigerung beim Picking: Grundsätzlich gebe es im Vergleich zum klassischen Retail oder E-Food-Bereich wenig Potenzial. Eine umfassende Automatisierung sei bei einer geringen Artikelanzahl und einem kleinen Lager kurz- bis mittelfristig finanziell nicht interessant. Retail-Experte Schedlbauer ist dennoch der Ansicht, dass in Hochlohnländern Automatisierung im Fulfillment stattfinden muss, damit Unternehmen profitabel werden und bleiben. Die Automatisierung von grossen Distributionszentren oder einem Netz von Micro Fulfillment Centern (MFC) sei der richtige Weg. Drei Stunden Lieferfrist hält Schedlbauer für «gut machbar», 60 Minuten seien bereits ökonomisch herausfordernd, da die Bündelung von Lieferungen auf der letzten Meile immer ineffizienter werde. (...)

Sowohl Schu als auch Schedlbauer sind überzeugt, dass Quick Commerce ein Hype ist und man am Anfang einer Konsolidierungswelle stehe. «Momentan hoffen viele Anbieter, dass sie von einem anderen Player übernommen werden», meint Schedlbauer. Er geht davon aus, dass sich die Lieferzeiten bald auf 30 bis 45 Minuten ausdehnen und diese schnellen Lieferungen dann als Premiumservice angeboten werden. Ketten wie beispielsweise Rewe würden sehr schnelle Premiumbelieferungen aus dem Laden realisieren, den Rest aus dem Lager. Seiner Ansicht nach können langfristig vor allem die grossen Anbieter bestehen, die mit Lieferdiensten kooperieren. Letztere profitieren von dem Modell, weil sie bei temporär geringerer Nachfrage nach Lebensmitteln auch andere Waren – etwa Blumen, Drogerieartikel oder Pizza – zustellen und damit ihre Mitarbeitenden besser auslasten.

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