Früher gab es Anlagenbetreiber, die nach dem Motto «never touch a running system» auf «Nummer Sicher» gingen. Das kann sich heute kaum noch einer leisten. Wer zu lange zögert läuft Gefahr, dass Ersatzteile und Technologien nicht mehr verfügbar sind, sagt Markus Kammerhofer, Head of Retrofit Sales bei TGW.

Frage: Intralogistikanlagen aus Stahl und Eisen sind langlebig. Ab welchem Zeitraum nach der Inbetriebnahme ist ein Retrofit sinnvoll?

Kammerhofer: In der Tat sind Stahl und Eisen langlebig, manche Intralogistikanlagen laufen bereits seit Jahrzehnten. Beim Thema Retrofit geht es aber nicht in erster Linie darum, robuste Stahlkomponenten zu ersetzen. Die IT- und Steuerungssysteme auf den neuesten Stand zu bringen, das ist ein wichtiges Thema, das alle paar Jahre auf die Agenda gehört – vor allem, wenn Unternehmen wachsen. Im Prinzip werden mit einem Retrofit Materialflusssysteme modifiziert oder erweitert, damit ein Anlagenbetreiber optimal auf die Bedürfnisse seiner Kunden eingehen kann. Grundsätzlich würde ich das Thema in drei Unterpunkte gliedern.

Wie lauten diese?

Erstens Anpassungen, die oft schon wenige Monate nach Inbetriebnahme des Gesamtsystems erfolgen sollen, um sich in einer schnelllebigen Zeit auf neue Marktanforderungen ausrichten zu können. Punkt zwei sind Erweiterungen, die vor allem bei Unternehmen mit hohen Wachstumsraten einige Jahre nach dem Go-Live anstehen. Punkt drei sind Modernisierungen der IT und Steuerung, die im Schnitt alle vier oder fünf Jahre nötig sind. Die Mechanik ist erst nach zehn oder mehr Jahren an der Reihe. Wenn die Software auf den aktuellen Stand der Technik gebracht wird, sollte man das bei der Steuerung auch gleich berücksichtigen.

Markus Kammerhofer.

Wie entwickelt sich der Markt? 

Retrofit ist ein Wachstumsmarkt. Bei TGW wickeln wir im in diesem Bereich heute jährlich fast fünfmal so viele Projekte ab wie noch vor zehn Jahren. Das liegt zum einen daran, dass wir in dieser Zeit viele neue Anlagen verkauft haben. Zum anderen erkennen Unternehmen zunehmend, dass sie im harten Wettbewerb nur dann die Nase vorne haben, wenn sie sich den Bedürfnissen ihrer Kunden perfekt anpassen. Die Anlagenbetreiber sehen auch, dass das Einhalten des Lieferversprechens und damit der Aufbau einer widerstandsfähigen Supply Chain immer wichtiger wird. In den Köpfen der Entscheider ist die sogenannte VUCA-Welt präsent, also Herausforderungen, die in Zusammenhang mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität stehen. Nicht zuletzt hat seit vergangenem Jahr die Corona-Pandemie den Markt angetrieben – beispielsweise wegen eines sprunghaften Anstiegs des E-Commerce in einigen Branchen.

Wann ist ein Modernisierungsprojekt unumgänglich?

Wer das Thema nicht rechtzeitig angeht, setzt sich dem Risiko aus, dass Ersatzteile auslaufen und Komponenten nicht mehr zu haben sind. Noch wichtiger ist aber das Wissen, das fehlt, weil beispielsweise IT- und Steuerungs-Spezialisten in den Ruhestand gehen. Viele IT-Fachleute verfügen heute über reichlich Expertise in NET, C#, JAVA oder SAP, können aber nicht mehr mit C++ oder C umgehen. Bei Retrofitprojekten setzen wir grundsätzlich auf die Einführung der neuesten Technologie, damit die möglichst lange aktuell ist.

Wie lange dauert ein Modernisierungsprojekt?
Im Prinzip gibt es zwei Möglichkeiten: den «Big Bang» oder schrittweises Vorgehen. Letzteres wird immer wichtiger, weil Unternehmen das Risiko, dass beim Big Bang etwas schiefgeht, keinesfalls eingehen wollen. Zudem machen immer weniger Firmen Betriebsferien, die Anlagen müssen also so konstant wie möglich laufen. Wir haben Kunden, die an einem einzigen Tag mit einem Zentrallager mehrere Millionen Euro Umsatz generieren. Bei ihnen zählt jede Stunde, in der die Intralogistik stillsteht. Solche Unternehmen strecken eine Modernisierung über ein halbes Jahr oder länger und wir operieren quasi am offenen Herzen – aber sehr gut vorbereitet. Kleinere Retrofits können sogar an Wochenenden über die Bühne gehen.

Bilder: TGW Group

Was sind die wichtigsten Schritte?
Exakte Analysen und eine perfekte, detaillierte Planung sind unabdingbar. Wir analysieren zunächst den Ist-Zustand der Technik, die Bedingungen vor Ort und schauen uns die Kundenanforderungen an. Die Erstellung eines Pflichtenheftes ist obligatorisch. Wenn die Ablösung der Materialflusssteuerung ansteht, müssen auch die Schnittstellen zu den untergelagerten Systemen, speicherprogrammierbaren Steuerungen bedacht werden. In allen Fällen muss ein gut durchdachtes Umstellungskonzept ausgearbeitet werden, um die Warenverfügbarkeit sicherzustellen.

Was sind die Vorteile des Retrofit?

Allein das Upgrade einer Software auf die aktuelle Technikstufe liefert einen Zuwachs an Funktionalitäten. Neue Lagerverwaltungssysteme ermöglichen eine bessere Konnektivität mit anderen Systemen, etwa Manufacturing Execution Systems, Supply Chain Management Systems und Enterprise Resource Planning Systems, sodass der Datenfluss durchgängiger wird.

Immer öfter werden wir gefragt, ob sich autonome Technologien wie Fahrerlose Transportsysteme oder Roboter in die Gesamtanlage integrieren lassen. Sie schaffen mehr Flexibilität und eine leichtere Skalierbarkeit. Lagerverwaltungssysteme, die auf dem neuesten Stand der Technik sind, bieten auch die Möglichkeit einer Steuerung über Touchscreens. Die Bedienung ist intuitiv, die Einarbeitung für Mitarbeitende relativ einfach. Das gilt auch für das «stufenlose» Zoomen der Anlagenvisualisierung. Nutzer können bis auf Sensorebene in die Systeme hineingehen, um defekte Komponenten zu lokalisieren. Wartungsarbeiten nach Retrofits sind einfacher durchzuführen. Ein Thema wird aber immer wichtiger

Nämlich?

Dass die Wünsche der Endkunden schneller umgesetzt werden als der Wettbewerb dies kann. Denn wer die neuen Bedürfnisse nicht erfüllen kann, verliert Kunden. Früher reichte einem Kunden eine Lieferung mit 100 Positionen. Heute will er den Auftrag mit dem gleichen Volumen an zehn verschiedene Orte geliefert bekommen – zu zehn unterschiedlichen Zeiten.
 
Wie teuer kann das werden?

Es gibt Projekte, die starten bei 50.000 Euro, Grossprojekte kosten zum Teil mehrere Millionen. Was man bedenken sollte: Wer beispielsweise am Tag mehrere Millionen Euro Umsatz mit einem Zentrallager macht, für den ist ein einziger Ausfalltag teurer als ein komplettes Retrofit.

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